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Schau da geht die Sonne unter

von Sibylle Berg

Mit Matthias Brandt, Jele Brückner, Manuel Bürgin, Johanna Gastorf, Marcus Kiepe, Michael Maertens, Martin Rentzsch, Angelika Richter, Lena Schwarz

Inszenierung: Niklaus Helbling; Bühne: Dirk Thiele; Kostüme: Regine Standfuss; Musik: Felix Huber; Dramaturgie: Klaus Mißbach.

Premiere: 22. März 2003, Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele

Fotos: Wilfried Böing

»Nun darf die Autorin sich privilegiert schätzen, denn ganz so einsam wie ihr universaldepressives Personal ist sie selbst nicht: Sie hat einen Regisseur. Und der wiederum hat in Bochum vorzügliche Schauspieler, die sich nicht zu schade sind, sogar einem Gummibaum oder einem Bilderrahmen darstellerisches Profil zu geben, wie der eigensinnige Text es partout verlangt, der noch den Krebs (die Krankheit, nicht das Tier) kauzig vor sich hin reden lässt. Niklaus Helbling ist ein Regisseur für fremde oder fremd gewordene oder eben auch sich gewaltsam fremd gebärdende Vorlagen, und es scheint ihm fast gleichgültig zu sein, ob die Stücke einen dezidiert dramatischen Gestus haben oder nicht: Er ist ein Bühnenerzähler, ein Bühnenpoet ganz eigenen Stils. Mit kindlicher Fabulierlust macht er scheinbar Unmögliches szenisch möglich, lässt Verkümmertes aufblühen und taucht das Morbide in ein Vitalbad exzentrischer Phantasie. Und Helbling ist ein Ensembleregisseur. Seine Arbeit am Text von Sibylle Berg atmet den Team-Spirit, dem allein es zu verdanken ist, dass aus einer Collage von Monologsplittern doch fast noch so etwas wie ein Stück wird. Michael Maertens spielt mit deutlich reduzierter Spannkraft «Er 1» und «Er 2», also den Reisebüroangestellten kurz vor der Entlassung wie auch den blasierten Feuilletonchef im Designeranzug, der in der Konferenz wissen will: «Was gibt es Neues von Beigbeder?», ohne sich von der Antwort Aufschluss zu erhoffen. Angelika Richter, mit wunderbar weiten Augen in die Hoffnungslosigkeit blickend, ist sein doppelter weiblicher Widerpart, spätes Prolet-Mädchen und dann kaufsüchtige Schnepfe; und vor allem Matthias Brandt als «Kollege» glänzt mit feinen Charakterminiaturen, formt aus schmalen Textpointen vernachlässigte Subjekte, die im Scheitern Würde bewahren. (…) Bergs Gesellschaftsdiagnose hat etwas Säuerliches, schwelgt verhärmt in einer abstrakten Menschenfeindlichkeit. Aber Helblings sonderbarer Humor treibt auch in diesem Sumpf bizarre Blüten, weil der Regisseur im Grunde nichts beweisen will als nur dies: Möglich ist auf dem Theater alles. Und manchmal ist es eben pur sein eigener Zweck.« Martin Krumbholz, Neue Zürcher Zeitung, 24. März 2003

  • Beitrag veröffentlicht:22. März 2003